Überall heißt es, man solle „achtsam“ sein wenn man sich gestresst fühlt. Das Konzept der Achtsamkeit stammt vorallem aus dem Buddhismus und erhält zunehmend auch wissenschaftlich Rückendeckung: Immer mehr Studien belegen positive Wirkungen auf die Gesundheit. Achtsamkeit stärkt die psychische und körperliche Gesundheit, entspannt Gestresste und verbessert die Lebensqualität. Doch wie „geht“ Achtsamkeit? Und was ist es überhaupt? Ein Gastbeitrag von Sandra Knümann, Achtsamkeits- und Naturtherapeutin.
„Achtsamkeit“ ist in aller Munde. Fast jede Frauenzeitschrift hat schon damit getitelt, Meditations- und Achtsamkeitskurse boomen und der Begriff hat längst Einzug in die normale Alltagssprache gehalten. Da sollen z.B. Kinder „achtsam“ mit ihren Geschwistern umgehen oder die Benutzung einer Drehtür mit „erhöhter Achtsamkeit“ erfolgen. Aber was ist eigentlich mit „Achtsamkeit“ gemeint?
„Achtsamkeit bedeutet, auf eine bestimmte Weise aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Moment und ohne zu werten“, sagt Prof. Jon Kabat-Zinn, der „Vater“ der modernen Achtsamkeitspraxis. Dr. Michael Huppertz, Autor mehrerer Bücher zum Thema, beschreibt die achtsame Geisteshaltung noch genauer: „Achtsamkeit ist eine Haltung des wachen, absichtslosen, offenen, akzeptierenden Verweilens in der Gegenwart.“ Klingt das einfach? Klingt das schwierig? Es ist beides zugleich!
Einfach, aber nicht leicht
Einerseits ist Achtsamkeit simpel: Man muss nichts „tun“, sondern einfach nur da sein und wahrnehmen, was jetzt ist. Du kannst z.B. wahrnehmen, wie es sich anfühlt, auf dem Stuhl zu sitzen. Wie Dein Körper die Lehne, die Sitzfläche und den Boden berührt, welche Temperatur Deine Füße haben, wie sich Dein Rücken in dieser Haltung anfühlt usw.. Oder Du fokussierst Deine Aufmerksamkeit auf Deine Emotionen, beobachtest ihr Kommen und Gehen und spürst ihre körperliche Wirkung. Du kannst die Achtsamkeit auch auf andere Dinge richten: Deine Gedanken, die Umgebung, Deinen Atem, Deine Mitmenschen usw.. Eben alles, was JETZT wahrnehmbar ist.
Eigentlich simpel.
Andererseits ist Achtsamkeit auch schwierig, denn sie widerspricht einigen unserer stärksten Gewohnheiten. Normalerweise sind wir z.B. gewohnt, uns gedanklich mehr in der Zukunft oder Vergangenheit aufzuhalten als in der Gegenwart.
Hallo Autopilot!
Du kennst sicher diesen Zustand des „Autopiloten“: Du fährst automatisch den Weg zur Arbeit, obwohl Du heute woanders abbiegen wolltest. Du verrichtest wie ferngesteuert die Hausarbeit und weißt anschließend nicht mehr, was und wie Du es gemacht hast (geschweige denn, dass Du wahrgenommen hättest, wie sich der Staubsauger in Deinen Händen anfühlt). Wie häufig sind wir gedanklich abwesend und nicht bei der Sache?
Eine andere starke Gewohnheit ist, dass wir sehr schnell beurteilen, d.h. Erfahrungen in „gut“ oder „schlecht“ einteilen. Die „guten“ Erfahrungen wollen wir dann am liebsten festhalten und wiederholen, die „schlechten“ möglichst gar nicht wahrnehmen und zukünftig vermeiden. Das kann viel Leiden verursachen, denn die Realität ist nun mal so, dass jedes Ereignis kommt und geht. Jeder Widerstand gegen diese Realität kostet viel Kraft und kann uns auf Dauer sogar krank machen.
Mit der Haltung der Achtsamkeit kannst Du den „Autopiloten“ verlassen und lernen, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie wirklich sind. Das bedeutet nicht, dass Du gutheißen musst, was passiert. Du setzt nur der Realität keinen Widerstand mehr entgegen.
Wenn Du die Dinge achtsam betrachtet hast und die Situation daraufhin verändern möchtest, hast Du immer noch drei Möglichkeiten:
1. Du veränderst die Situation
2. Du veränderst Deinen Umgang mit der Situation oder
3. Du verlässt die Situation.
Mindestens eine von diesen drei Möglichkeiten steht immer zur Verfügung.
Immer Anfänger bleiben
Achtsamkeit wird häufig als „Übung“ bezeichnet, was zu dem Missverständnis führen kann, dass man irgendwann das „Lernziel“ erreicht haben könnte. Tatsächlich gibt es aber nichts zu erreichen, sondern es geht immer nur um den gegenwärtigen Moment. Ich spreche daher lieber von „Praktizieren“, statt von „Üben“.
Im Zen-Buddhismus gibt es ein schönes Wort für diese offene, absichtslose Haltung: „Anfängergeist“. Es meint, dass wir immer wieder mit neuen, frischen Augen auf die Welt schauen sollen. So als würden wir alles ganz neu entdecken und noch keine Vorerfahrung besitzen. Vielleicht erinnerst Du Dich an ein Ereignis, das Du zum ersten Mal erlebt hast. Wie wach und neugierig Du dabei warst! Wie genau Du alles gefühlt und wahrgenommen hast! Vielleicht hast Du sogar ein bisschen experimentiert, ohne damit einen Zweck zu verfolgen.
Im Laufe der Zeit, und wenn Du die Situation mehrmals erlebt hast, ist Deine Wahrnehmung immer mehr abgestumpft. In unserem Kopf denkt es dann: „Kenne ich schon, langweilig, schnell weiter“ und wir sind nicht mehr voll bei der Sache. Dadurch verpassen wir aber alle Situationen von Routine und Gewohnheit, also den Großteil unseres Lebens! Achtsamkeit lädt uns ein, auch hier wieder Lebendigkeit hinein zu bringen und z.B. den Kaffee, den wir trinken, wirklich zu genießen, statt ihn nur schnell herunter zu schütten. Wenn Du damit beginnen willst, mehr Lust und Genuss in Dein Leben zu holen, dann beobachte Kinder oder Tiere – sie sind wunderbare Lehrmeister für den Anfängergeist!
Die Absicht der Absichtslosigkeit
In der Achtsamkeit verfolgen wir also keine Absicht, mit der Achtsamkeit aber unter Umständen schon. So haben wissenschaftliche Untersuchungen ergeben, dass die Achtsamkeitspraxis unserer seelischen und körperlichen Gesundheit äußerst zuträglich ist: Wer regelmäßig praktiziert, kann unter anderem seinen Blutdruck senken und die Herzfrequenz normalisieren, sich entspannen und seine Atmung vertiefen, seine persönlichen Stressmuster besser verstehen und verändern, seine Wahrnehmung und sein Körperbewusstsein schulen, seine Selbstachtung und Selbstfürsorge stärken, einen entspannten Lebensstil entwickeln und lernen, angemessen mit Krankheitssymptomen, schwierigen Gedanken und Gefühlen umzugehen.
Nicht zuletzt ist Achtsamkeit die Voraussetzung für lustvolles Genießen! Es lohnt sich also, achtsam zu sein. Gleichzeitig ist es wichtig, alle diese Absichten während der Achtsamkeitspraxis beiseite zu schieben bzw. sie wie jedes andere geistige Ereignis nur zu beobachten und nicht daran festzuhalten.
Achtsamkeit für Anfänger – so gehts
Eine Basisübung ist die Beobachtung des Atems:
- Setze Dich bewusst in eine aufrechte und würdevolle Körperhaltung, um im gegenwärtigen Moment anzukommen. Wenn möglich, schließe Deine Augen.
- Lege eine Hand auf Deinen Unterbauch und richte Deine Aufmerksamkeit nun sanft auf den Atem.
- Nimm jedes Einatmen und jedes Ausatmen wahr, so wie sie aufeinander folgen, ohne Dich anzustrengen oder etwas an Deinem Atem zu verändern. Die Hand auf dem Bauch hilft Dir, die Bewegungen besser zu spüren.
- Nimm wahr, wie sich der Luftstrom an Deinen Nasenlöchern anfühlt, durch Deine Atemwege strömt, welche Temperatur die Luft hat, wie sich Dein Körper ganz von selbst bewegt, sich ausdehnt, zusammenzieht und eine kleine Atempause einlegt.
- Was kannst Du noch entdecken?
Irgendwann werden Dich Gedanken ablenken, das ist ganz normal. Wenn Du es bemerkst, bist Du schon achtsam! Dann lass die Gedanken einfach weiter ziehen und lenke Deine Aufmerksamkeit sanft und freundlich zur Wahrnehmung des Atems zurück. Etwa 5-10 min. täglich können ein prima Einstieg in die Achtsamkeitspraxis sein.
Weitere Tipps:
- Schließe Dich einer Meditationsgruppe an
- Höre geführte Meditationen auf CD oder als MP3
- Probiere eine Achtsamkeits-App auf dem Smartphone aus
- Nutze jede Wartezeit für die Atembeobachtung
- Besuche Kurse und Seminare zum Thema Achtsamkeit
- Und vor allem: streng Dich nicht an, sondern genieße Deine Lebendigkeit!
Hast du schon Erfahrung mit Achtsamkeit? Dann lass doch einen Kommentar hier und schildere uns, wie es sich auf dein Leben ausgewirkt hat!
Über die Autorin
Sandra Knümann ist Achtsamkeits- und Naturtherapeutin. In ihrer Praxis in Eitorf (Nähe Köln/Bonn) bietet sie Achtsamkeits-Seminare, Psychotherapie und Coaching an – häufig in und mit der Natur.
Kontakt:
Praxis für Achtsamkeit und Naturtherapie (PAN)
Zur Schweizer Höhe 9, 53783 Eitorf
Tel. 02243-84 34 48,
info@pan-praxis.de
www.pan-praxis.de
Zusatzbemerkung von Annika: Ein großes Dankeschön für den tollen Beitrag! Ich durfte Sandra vor einigen Wochen persönlich kennengelernt und habe sie als sehr freundliche, warmherzige, leidenschaftliche und lebensfrohe Frau kennengelernt. Wer sich mit dem Thema beschäftigen möchte – unbedingt bei ihr melden!
P.S. Möchtest du mehr zum Thema Achtsamkeit erfahren? Dann findest du auch hier und hier weiterführende Seiten.
Wenn ich deine Zeilen so lese, und das habe ich mehrfach gemacht, hört es sich wirtklich recht simpel sein etwas achtsamer durch die Welt zu gehen. Ich versuche es auch bereits eine Weile, allerdings gibt es immer wieder Momente, in denen die Hektik gewinnt. Aber ich arbeitere daran. Danke für diesen Beitrag
Liebe Ines,
ich gratuliere Dir zu Deinem Entschluss, mehr Achtsamkeit in Dein Leben zu bringen! Am besten gelingt der Einstieg mit der Selbstverpflichtung zu einer formellen Übung, z.B. jeden Morgen 10 min. Atembeobachtung. Im Laufe der Zeit breitet sich diese Gewohnheit auch auf andere Lebensbereiche aus und Du wirst von selbst immer achtsamer bei allem, was Du tust. Die formellen Übungen dienen als Wurzeln, aus denen der Rest entstehen kann. Schau doch auch mal auf meiner Website vorbei: Am 12.2.2017 biete ich z.B. wieder einen Achtsamkeitstag an. Wäre das vielleicht etwas für Dich?
Herzliche Grüße von
Sandra
Liebe Ines, danke für die tollen Tipps. Ich mache gerade eine schwere Phase durch und bin froh, einen Beitrag wie diesen zu lesen. Probiere die Tipps nach und nach aus und ich bin sicher, dass ich mich danach besser fühlen werde. LG aus Schenna bei Meran und weiter so mit dem Blog.
Vielen Dank für diesen aufschlussreichen und sehr interessanten Beitrag. Wie du schon erwähnst ist Achtsamkeit keine „Übung“ sondern ein Bewusstseins Zustand der viel Übung und Hingabe erfordert – halt ein kontinuierliches praktizieren. Die von dir vorgestellte Atem Übung funktioniert für mich persönlich schon mal sehr gut!
Liebe Grüße,
Lea